WAS tun gegen IS?

INTERVIEW mit ANNABELLE

Lieber Herr Hanel
Ich arbeite für die Zeitschrift annabelle an einem Beitrag über den Widerstand von Muslimen gegen den IS und andere extremistische Terrorgruppen, wie etwa Boko Haram und Al Kaida. Tatsache ist, dass die Gräueltaten dieser extremistischen Gruppen im Namen des Islam begangen werden, etwas, das Musliminnen und Muslime in aller Welt schockiert und abstösst. Man weiss aber auch, dass gerade der islamische Extremismus auf viele Jugendliche anziehend wirkt, auch auf Jugendliche in der Schweiz.
Mir liegt es nun daran zu erkunden, wie muslimische Würdenträger und Vorsteher von Organisationen und Vereinen gegen den islamischen Extremismus ankämpfen. Inwiefern wird die unglaubliche Gewalt, die von Extremisten verübt wird, in Moscheen und /oder während des Religionsunterrichts diskutiert und verurteilt? Wie werden junge Menschen, die radikale Tendenzen aufweisen, aufgefangen? Inwiefern wird analysiert, warum der Islam heute zu derartiger Gewalt verleitet?
Ich bereise als Journalistin seit Jahren den arabischen Raum und setze mich mit Fragen zu Wirtschaft, Politik und Religion, besonders aber auch mit dem Alltagsleben der Menschen auseinander.
Sehr gerne können wir diese Fragen persönlich oder telefonisch besprechen, oder, falls nicht anders möglich, via Email
Ich freue mich, von Ihnen zu hören.
Lieber Gruss
Helene Aecherli, 19.8.2014

 

–          Wie wird die unglaubliche Gewalt, die von Extremisten wie den IS verübt wird, in Moscheen und /oder während des Religionsunterrichts diskutiert?

HANEL: Mit Erschrecken und Verunsicherung – vor allem deshalb, weil man durch die Tatsache, dass völlig eskalierte, grauenhafte  Dinge unter der Flagge des Islam geschehen in der Öffentlichkeit als potentiell „Mitschuldige“ oder „Mitträger“ gilt und in (der Öffentlichkeit und) den Medien derart dargestellt wird.  Mit Verärgerung und in grossem innerem Aufruhr  – weil man durch ständig wiederholte Aufforderungen sich von dieser Gruppe und deren Verbrechen zu distanzieren, nebst der unterschwelligen Unterstellung der Komplizenschaft  vor allem auch – seitens der vorgeblichen Muslime – in Bezug auf die Entstellung des Islam, in dem wir unsere Hoffnung und moralische und ethische Erfüllung finden, durch eine Gruppe großenteils unreflektierter, undifferenzierter, ungebildeter und irregeleiteter Haudegen, Hasardeure, Mörder und Totschläger betroffen ist.

Allerdings haben solche Ereignisse auch das Potential, uns zu alarmieren und somit unseren Willen zur theologischen und intellektuellen Richtigstellung in Wort und Tat sowie zur persönlichen Selbstreflektion zu aktivieren.

 

–          Wie werden junge Menschen, die extremistische Tendenzen aufweisen, aufgefangen?

HANEL: Es gibt kaum andere Möglichkeiten, als solcherart gefährdete Menschen mit aller Deutlichkeit auf die wahren religiösen Werte im Islam hinzuweisen und ihnen eindringlich ans Herz zu legen  diese zu verinnerlichen und auszuleben, anstatt sich durch brandgefährliche politische Parolen auf verwerflichen Weg verführen zu lassen. Das Problem dabei ist, dass die politische Großwetterlage und ihr destabilisierender Einfluss auf die gesunde islamische Befindlichkeit weltweit dazu angetan ist, auf undifferenzierte „schwarz-weiss, Freund-Feind Zeichnung“ höchst ungesund „anzuspringen“.

Dazu reicht es einige historische und politische Fakten aus dem Gesamtkontext heraus, mit ausgesuchtem islamisch theologischem Vokabular verbrämt, in den eigenen ideologischen Kontext zu stellen. Ein weiteres tut unter Anderem das weltweit inzwischen auf gefährlichen Tiefststand gesunkene Bildungsniveau. Auch die tatsächliche oder vor allem von muslimischen Jugendlichen empfundene Benachteiligung bei der Arbeitssuche, am Arbeitsmarkt oder das ganz allgemein stark zunehmende „islamophobe“ weltweit zu beobachtende Gebaren trägt zur allgemeinen Rückzugstendenz, Entfremdung und dem Abgleiten in extremistische Gefilde bei.

Ein starker, liebevoller Familienzusammenhalt bildet nach wie vor beste Grundvoraussetzung für eine Persönlichkeitsstruktur, die dieser Herausforderung standzuhalten vermag. Desweiteren behalten, Gott sei Dank,  in der Mehrzahl der Moscheen diejenigen Stimmen die Oberhand, welche zur Geduld und zum freundschaftlichen Dialog mit der nichtmuslimischen Umwelt  mahnen.

 

–          Wird analysiert, warum der Islam zu derartiger Gewalt verleitet?

 HANEL: Zuerst weise ich die Frage in dieser Form der Unterstellung klar zurück.

Nicht der Islam verleitet zu derartiger Gewalt, sondern eine fragmenthafte, einseitige und verkommene Sicht auf die Welt, das Leben und Religion ganz allgemein!

Nicht der BLEISTIFT verleitet jemanden dazu, eine „Hassrede“ oder eine „Ode an die Liebe“ und das Leben zu verfassen – es ist die innere Einstellung, welche das Werkzeug für diesen oder jenen Zweck einsetzt. Die Religion ist im Eigentlichen ein Werkzeug, um inneren Frieden und Ausgeglichenheit in einer komplexen und für den Menschen nicht ungefährlichen Welt zu finden!

          Zurück zur von mir nun neu formulierten Frage: Wird analysiert, warum man die weitverbreitete Meinung vertritt, dass der Islam zu derartiger Gewalt verleitet?

Natürlich! Doch wie schon angedeutet, ist eine differenzierte Sicht zu erarbeiten, aus- und zu verbreiten ein höchst schwieriges Unterfangen.

 

–          Gerade von muslimischer Seite und besonders von jungen Menschen höre ich immer wieder, dass es an der Zeit ist, sich kritisch mit dem Koran und den unterschiedlichen Interpretationen auseinanderzusetzen. Was sagen Sie dazu?

HANEL: Es ist das Recht der Jugend Althergebrachtes in Frage zu stellen und zu verlangen, zu wünschen und zu hoffen, von dessen bereitgestellten Antworten überzeugt zu werden und auch Eigenes, Neues beizusteuern.

Islamische Gelehrsamkeit, zeitgenössische und althergebrachte sind grundsätzlich bestens gerüstet, diesem Recht mit größtem Wohlwollen zu begegnen. Nicht nur deshalb, weil diesem Hinterfragen  mit der Gewissheit begegnet werden kann, dass die islamische Lehre aufgrund ihrer Quelle – aus der Weisheit des höchst erhabenen Schöpfers aller Welten und Universen – über jede, auch zeitliche Anfechtung erhaben ist.  Weiter bin ich auch der Überzeugung, dass in jedem Zeitalter kostbare, einzigartige Beiträge zur Vervollkommnung des menschlichen Verständnisses über das Göttliche und dessen Verbindung zu aller Schöpfung bereitgestellt sind und darauf harren entdeckt und berücksichtigt zu werden.

 

–          Gerade von  MuslimInnen (vom Jemen bis zur Schweiz) höre ich immer öfter, dass sie sich wünschen, offen und kritisch über Themen wie Familienrecht, Menschenrechte, Sexualität, Demokratie und das Reizthema Kopftuch zu diskutieren, aber dass sie damit in ihren jeweiligen Communities auf Ablehnung und Unverständnis stossen.  Was sagen Sie dazu? Wie werden diese Diskussionen in der Community hier geführt?

HANEL: Diese Frage lässt mich ein wenig schmunzeln. War die Jugend aller Kulturen, Regionen und Zeiten nicht immer mit ablehnendem Widerstand der älteren und mitunter sehr müde gewordenen Generation konfrontiert, wenn es darum ging IHRE Fragen beantwortet zu bekommen, die oft für die Eltern selbst nie oder nur ungenügend beantwortet wurden?

So bedauerlich diese, ganz natürlich zu erklärende Ablehnung für mich ist – so selbstverständlich ist sie für alle „Communities“ – tatsächlich und leider auch für die muslimische Gemeinschaften ein wahrhaftiges Hemmnis für deren Entwicklung. Die große und umfassende Herausforderung, die sich uns Muslimen in der heutigen Zeit stellt, können wir als Gemeinschaft nur meistern, indem wir uns  den forschenden, furchtlosen, unverbrauchten Fragestellungen der nachfolgenden Generation stellen – um in Zusammenarbeit mit ihr neue Ufer zu erreichen.

In diesem Sinne wünschte ich mir unbedingt eine tiefe Wurzeln berührende Begegnung der „reifen“ Generation mit den heranreifenden Generationen in ALLEN Communities, allen Ländern und allen (Lebens-) Gemeinschaften.

 

 

 

 

2 Gedanken zu „WAS tun gegen IS?

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