In der Jugend meinen wir, das Geringste, das die Menschen uns gewähren können, sei Gerechtigkeit. Im Alter erfahren wir, dass es das Höchste ist.
Maria von Ebner-Eschenbach
Die Zeit, in der man noch an absolute Dinge glaubt, – die es geben mag! – in der man meint, die Welt bestehe nur, um verbessert zu werden, nennt man Jugend. Es ist jener Abschnitt im Leben, der von einem unbeugsam scheinenden Willen getragen wird; dem Willen, Gerechtigkeit zu erleben, zu sehen, zu hören, gerecht zu fühlen.
Als junge Menschen stellten und stellen wir uns vor, es müsse eine Richtlinie geben, nach der es möglich wäre gerecht zu urteilen. Obwohl wir Suchenden sie nirgends zu sehen bekommen, halten wir doch mit starkem Glauben diesen wunderschönen Traum von der Gerechtigkeit fest. Noch können wir ihn nicht greifen, – nicht begreifen, noch sind wir nicht fähig, das undeutliche Bild der Harmonie schärfer zu erfassen. Vielleicht ist es Angst, die uns hemmt, den Schritt zu tun und die Augen zu öffnen. Vielleicht ist es die Furcht, auf einmal mutterseelenalleine dazustehen und zu erkennen und zu staunen, und zu wissen, dass man einsam ist. Zu wissen auch, dass man nie einsam sein kann, zu wissen, dass das Paradies und die ewige Verdammnis gleichzeitig in uns und um uns nebeneinander bestehen. Noch leugnen wir, als junge Menschen, die wir doch so kampfbereit waren, das Wissen um die unendliche Vielzahl der Möglichkeiten. Wir wollen und können nicht glauben, dass das, was uns falsch und nicht im geringsten Maße gerecht zu sein scheint, nicht weniger richtig und nicht minder gerecht sein kann und vielleicht sogar letzten Endes auch ist, als jene Gerechtigkeit, die uns vorschwebt.
Mit Gewalt verschließen wir Augen und Ohren vor der Gleichheit der Dinge und glauben, mit Kampf, mit Protest und mit hartem Kopf müsse es möglich sein, unser Trugbild der Gerechtigkeit so weit emporzuheben, bis es Gültigkeit für jedermann besitzt. Doch auf diese Weise wird es uns nicht gelingen.
Wir werden älter und sehen zu, wie unser einstiger Idealismus und Wille zur Gerechtigkeit im Strom der Zeit versinkt. Wählen wir jetzt den Weg der Verbitterung und Resignation, so wird es umso schwerer für uns, das Paradies auf Erden, welches wir doch inniglichst begehren, zu erleben. Wir hätten zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass wir die Welt nicht nach Belieben hin und her drehen können, solange wir selbst im Sumpf der Unwissenheit stecken bleiben, dass es nur wir selbst sind, die wir ändern müssen, um die Welt zu verändern.
Je mehr uns das Leben prägt und die damit verbundenen Erfahrungen und Erlebnisse unsere Entscheidungen von einander abhängig gestalten, desto häufiger sehen wir uns gezwungen zu fragen: „Was nun ist die wirkliche Gerechtigkeit, wo liegt der sichtbare Unterschied zwischen recht und unrecht, zwischen gut und bös’?“
Wir verlieren uns in Definitionen, die schon am nächsten Tag sich selbst zu widerlegen scheinen. Wir bauen Modelle, von deren absoluter Gültigkeit wir überzeugt sind, und fast im selben Moment lassen wir es zu, dass sie in sich zusammenstürzen, wie flüchtig aufgestellte Kartenhäuser, da es uns kurz schien, das Absurde des Absoluten erkannt zu haben. Langsam werden uns die Schwierigkeiten bewusst, die uns hindern, „gerecht“ zu sein. Denken wir zurück, so entsinnen wir uns des zugefügten und des erduldeten Unrechts, und wandern dabei vielleicht durch ein tiefes Tal der Traurigkeit, ohne zu wissen, dass die Talwände zu beiden Seiten Teile jenes Berges sind, dem man einst den Namen „Olymp“ gab.
Je mehr uns zustößt, je mehr wir zufügen und je mehr wir erfahren und erleben, desto deutlicher führen wir uns selbst vor Augen, wie wenig bereit zu verstehen wir eigentlich waren, wie schwer es uns fiel, etwas anzuerkennen ohne einer Frage zu bedürfen.
So vergeht unser Leben im Zweifel über Recht und Unrecht.
Doch einmal kommt die Stunde, in der wir besinnend innehalten und uns nach Ruhe sehnen. Mit müden Augen blicken wir auf eine lange Zeit zurück, die uns jetzt so kurz erscheint. Manch Träne vergießen wir über Augenblicke, deren Schönheit durch unser Versagen verloren ging. Manch Träne vergießen wir auch, wenn wir uns an Zeiten grenzenlosen Glücks zurückerinnern, in welchen wir nicht glauben konnten, wie schön, wie vollkommen, wie wohltuend Leben sich uns darbieten konnte. Wissend lächeln wir über die unzähligen großen und kleinen Torheiten, die wir nicht unterlassen haben zu begehen.
Wir erinnern uns wieder an unsere Jugend und an die Fragen und Aufgaben die sie uns für’s Leben mitgegeben hat.
Wir gedenken der Stunden, in welchen es uns unmöglich schien, an Gerechtigkeit überhaupt noch zu glauben oder auf sie hoffen zu dürfen.
Doch nahe fühlen wir uns der Antwort, nach der wir ein ganzes Leben lang verbissen gesucht haben. Da wir alt sind, sträuben wir uns nicht mehr vor der Erkenntnis, wir haben keine Furcht mehr vor der möglichen Leere, und so geschieht es, dass urplötzlich, ohne unser eigentliches Wollen und Zutun alles Wissen, in seiner gewaltigen Größe und Vollkommenheit aus uns hervorbricht.
Nun liegt die Bedeutung des Lebens, der Gerechtigkeit, aller Dinge, die es uns jemals wert waren, über sie nachzudenken, und aller Dinge, an deren Vorhandensein wir niemals glauben konnten, vor uns. Alles ist Eines. Eines ist das Andere und besteht durch wieder ein vollkommen anderes.
Kein Unterschied besteht mehr zwischen Liebe und Hass, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Tod und Geburt.
Leben ist gerecht, Gerechtigkeit ist Leben – und Leben ist doch das Höchste.
Hanel, 8b 1975
879 Worte
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