Die Meister des Nichtseins und Seins

Sufismus ist Philosphie – Die Meister des Nichtseins und Seins

Ein Beitrag, den mir Stefan MAKOWSKI zum Bedenken hinterließ ... 
Einer, der in hohe Höhen stieg und nun zu unseren Füßen liegt! 
Demut - MUT - Hochmut ... nicht Feigheit ist das Gegenteil von Mut! Habt Ihr das 
schon mal bedacht? HANEL

„Nur wenige Begriffe im Wörterbuch des Islams sind so eindrucksvoll wie die Begriffe „Sufi“ und „Sufismus“. Ihre pure Erwähnung provoziert häufig Debatten über ihre Bewertung, ihren Zweck und ihre Bedeutung. Manche orthodoxen und traditionelleren Muslime bringen diese Begriffe mit negativen Eigenschaften wie „verachtungsvoll“ und „beargwöhnenswert“ in Verbindung.
Für andere schließen diese Begriffe Menschlichkeit, Toleranz, Harmonie, die Überwindung oberflächlicher Rituale, Liebe zum Menschen und den Versuch, sich auf spirituelle Gefolgschaft einzulassen, ein. Für einige wenige sind Sufis dagegen Träumer, Rebellen und Leute, die sich unbefugt in die Rituale der Kirche und die Staatsgeschäfte einmischen.
Für viele aber stehen sie stellvertretend für das soziale Gewissen und gelten als Antennen der Gemeinschaft. In ihren Aktivitäten legen sie eine ausgesprochene Anteilnahme an der Menschheit und ein tiefes Interesse an und Wissen um die Kernwerte der Gesellschaft an den Tag. Sie treten gegen zivile und religiöse Führer an, die aufgrund eigennützigen Interesses Konflikte und Spaltungen in ihren Gemeinden hervorrufen.“[i]
Was Nasrollah S. Fatemie, Professor für Internationale Angelegenheit an der Farleigh Dickinson University, New Jersey, zum Teil apologetisch pro Sufis ins Feld führt, sehen Sektenbeauftragte und Politiker von heute möglicherweise eher kritisch. Zu eigenständiges politisches Denken schwört die Gefahr des Revoluzzertums herauf.

Der Säkularismus scheint ernsthaft gefährdet. Solange eine „geistige Ambition“ individuell, abgegrenzt und privatistisch bleibt, steht ihrer Ausübung nichts im Wege. Der charismatische Geist darf freilich niemals öffentlich werden. Meditation und Philosophie sind zu Privatsachen geworden. Jedermann (und jedefrau) mag seine oder ihre Lebensphilosphie haben – solange sie kein Politikum wird. Die Pflege bunter „Elfenbeintürme“ wird vom Staat akzeptiert, wenn ihre öffentliche Valenz möglichst gering und unsichtbar gehalten wird. Jene Religionen, die sich in den für sie vorgesehen Nischen betont unauffällig verhalten, können den Freiraum, den man ihnen gewährt, ausgiebig nutzen. Der mehr öffentliche Charakter des Islam wird daher gegen diese Konvention anstoßen müssen. Für viele ist der Islam eine Religion ohne Philosophie. Ihm fehle offensichtlich das subjektive, reflektive Element. Der vorgebrachte Vorwurf ist nicht objektiv. Ein Muslim hat die Pflicht, Gott in den Zeichen der Natur (wörtlich „am Horizont“) zu erkennen. Auf seinem Weg zur Gotteskenntnis, muß jeder Muslim vorher jedoch sich selber erkennen. Ein Ausspruch des Propheten macht diesen Vorgang klar: Nur „wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“.[ii]
Die Inschrift im Orakel von Delphi „Erkenne dich selbst!“ ist auch islamisch fest verankert. Die Ausführung dieses Imperativs wird allerdings dem Gläubigen überlassen. Das Sufitum, die Mystik des Islam, ist auch sein Selbsterkenntnisweg. Ob Sufitum auch philosophisch und damit rational zugänglich ist? Wie viele andere Autoren begreift auch Aldous Huxley das Sufitum als „ewige Philosophie“[iii]. Sie sei des Menschen immerwährende Suche nach dem eigenen Sein und stamme aus dessen ontologischer Ungewissheit.
Wer bin ich? Was tue ich hier? Warum gerade ich? Was ist das Leben eigentlich? Das sind die Fragen, die man sich stellt. Aus der Gebundenheit durch diese Fragen – und ihr entsprechendes Sein – will jedermann hinausgelangen. Es ist also der Wunsch, letztendlich frei von dieser Bedingtheit zu sein, der diese hinterfragt. Der Mensch will sein, doch auch nichtsein zugleich. Sein paradoxes Dasein hat ihn schon früh die Frage nach der ihm eigenen Realität stellen lassen. Ein Mittel dazu war die Philosophie. Mithilfe ihres Denkens haben die großen Denker die Prinzipien des Seins untersucht. Die Antwort auf die Frage, ob es Verbindungen zwischen der klassischen Philosopie und dem Sufitum gibt, könnte sehr folgenreich sein.

Laut David Benjamin ist der griechische Begriff „Sophia“ etymologisch mit dem hebräischen Wort „Sophi“ identisch. Die „wahre ‘Sophia’ oder Weisheit“, sei wahres „Wissen über Gott“[iv]. Die „Überlegenheit der islamischen Sophia“ erweise sich „am Objekt, das diese betrachte“. Islamischer Sophismus sei eine „Meditation über den Menschen und Gott“, die den Versuch unternähme, eine Einheit zwischen beiden herzustellen. Wohingegen das Studium der reinen Seinsprinzipien der Philosophie die Gottesfrage negiere. Benjamins Behauptung impliziert, dass der Sufismus die Vorläuferin der uns geläufigen Philosophie gewesen sein könnte. Historisch ist das denkbar. Man braucht nur davon auszugehen, daß mit dem Aufkommen des Monotheismus die ersten Gottesschulen entstanden, welche die Kenntnis Gottes zum Gegenstand hatten. Da Sufitum eine Transformationsschule ist, ist seine Anwendung mit Seinsveränderungen verbunden. Die Reflektion des Seins war damit unumgänglich. Die „Philosophie“ der biblischen Sophis hätte dann keine statische Seinsphilosophie, sondern eine Philosophie der Seinsentwicklung gewesen sein müssen. Diese hätte auf das Dasein vor dem Fall abzielen müssen. Sophische Philosophie hätte in jedem Fall zur „Philosophie von Adam und Eva“ werden müssen: zur „Sophia aeterna“.

Henry Corbin hat diese „ewige Philosophie“, die man besser als „Philosophie der Ewigkeit“ oder „Philosophie des Ewigen“ bezeichnen müßte, als „Weisheit vor dem Fall“ bezeichnet. Übereinstimmend mit al-’Arabi hat er sie auch als „jesuanische Weisheit“ (Hikmet ‘Issawiyye) bestimmt. Sie entstünde als „Zusammenkunft von Mitgefühl und Schönheit“ und dulde „keinerlei Vertrautheit (mit anderen Dingen) in ihrer einsamen Kammer.“[v] Tritt sie als „Sophi aeternus“, also in Form von Menschen auf, dann offenbare sich durch sie die „Manifestation der Transzendenz“. Die Heilige Sophia sei deshalb „göttlich, essentiell, sakrosant“. Innerhalb der Gemeinschaft der Sophis war das „Philosophieren“ demzufolge ein notwendiges Kontrollinstrument zur Prüfung der Entwicklungsstufe der Sophi-Adepten. Die allmähliche Verschmelzung des Sophis mit der vollkommen Sophia aeterna war sein Urmanifest. Die Quelle der Sophia (genannt „Ain Soph“) war Gott.

Es war natürlich klar, dass die, aus der Reinigung des Seins entsprungene Reflektion der Sophis nicht von jedem nachvollzogen werden konnte. Die Auslöschung in Gott war keineswegs ins Stammbuch der Massen geschrieben. Was taten die, die keinen Seinsübergang an sich selber bemerkten? Wie reagierten Schüler dieser Schulen, die nur Bilder im Kopf, vielleicht auch nur Gedanken erlebten? Wahrscheinlich ist, daß sie die Weisheit, die sie hörten, nur intellektuell bearbeiten konnten. Aus der empfundenen Sophia wurde ein Curriculum weiser Sätze gemacht – zur Nachahmung empfohlen. Neben echten Wissenden gab es jetzt „Freunde der Sophis“. Oder, auf Griechisch, „Philo-Sophis“ Der aus dem Griechischen stammende Begriff „Philosophie“ bedeutet soviel wie Liebe zur Weisheit und entsprechend meint Philosoph den Freund der Weisheit (philos = Freund; sophia = Weisheit)“, heißt es im „Lexikon der Philosophie“ – was etymologisch unrichtig ist.[vi]

Als erster Philosoph gilt Thales von Milet (624-546 v. Chr.), der hunderte, wenn nicht tausend(e) von Jahren nach jenen ersten Sophis lebte, welche die Bibel erwähnt. Zu den ersten Philosophen ist ebenfalls Parmenides (540-470) zu zählen. Seine Lehre der „Einheit des Seins“ ist eine reine Sufilehre, die bis zu diesem Tag besteht.

Philosophie ist zweitgeteilt: in eine Lehre des Seins und eine Lehre des Werdens. Unter allen Gruppen nennenswerter Philosophen hat es nur eine philosophische Schule gegeben, die sich weder hier noch dort, sondern, wie die Sufis, ins Nichtsein vertieften. Es handelt sich um Philosophen, die im 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland lebten. Ausgerechnet sie tragen den Namen „Sophisten“. Die Namens- und Inhaltsübereinstimmung kann nicht zufällig sein. Auch was die griechischen Lehrer der Weisheit kreierten, macht stutzig: Sie brachten das Prinzip des Zweifels ins philosophische Gebäude ein. Sie zweifelten an allem, was ist. Der Philosoph Gorgias (485-410) trieb diesen Zweifel auf die Spitze, indem er postulierte:

  • Nichts existiert.
  • Würde etwas existieren, ist es doch nicht erkennbar.
  • Wäre es auch erkennbar, ist es doch nicht mitteilbar.“[vii]

Den griechischen Sophisten war die Erfahrung der Sinne recht fraglich geworden – zugleich auch ihr eigenes Denken. Mit dieser eigenartigen Doktrin des Nichtseins aller Dinge („alles ist nicht!“), und der darin enthaltenen Skepsis, sollte später al-Ghasali zu einer der drei führenden Gestalten der Sufi-Mystik werden. Er schuf das Meisterstück vernünftiger Mystik – was keineswegs ein Widerspruch ist: Muhammad al-Ghasali fasst seine Theorie der Skepsis in die folgenden Punkte:

1. Die Instanzen der Sinne sind trügerisch. In seinen eigenen Worten: „Die Instanz der Vernunft straft (die Instanz der Sinne) Lügen.“

2. Die Instanz der Vernunft ist trügerisch. In den Worten von Ghasali: „Vielleicht gibt es über dem Begreifen der Vernunft eine andere Instanz, die, wenn sie auftreten würde, die Vernunft in ihrem Urteil Lügen strafen würde. Wie die Instanz der Vernunft auftrat und die Sinne in ihrem Urteil Lügen strafte.“

3. Die „Realität“ ist eingebildet. Ghasali: „Es ist aber möglich, dass ein Zustand über dich kommt, dessen Verhältnis zu deinem Wachzustand analog zu dem Verhältnis deines Wachzustands zu deinem Schlafzustand ist. Wenn dieser Zustand eintritt, erkennst du, dass alles, was du (zu erkennen) glaubtest, ein Phantasiegebilde ist, das nichts Wirkliches darstellt.“

4. Der Traum ist nur ein Traum im Traum.

In seiner Promotion „Al-Ghasalis Grundlegung der Philosophie … im Vergleich mit Descartes“ zeigte M. H. A. Zakzouk, wie geradezu deckungsgleich die Philosophien von Al-Ghasali und Descartes sind. Seine brillante Abhandlung läßt keine andere Schlußfolgerung zu, als dass der berühmte Aufklärer seine Methode des Zweifelns unmittelbar von Ghasali gelernt haben muss. Analog zu den vier Punkten Ghasalis formulierte der französische Enzyklopädist dieselben vier Punkte:

1. „Nun bin ich dahinter gekommen, dass (die Sinne) uns manchmal täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben.“

2. „So will ich denn annehmen, nicht der gütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich <vernunftmäßig> zu täuschen.“

3. Hier spricht Descartes vom „deus mendax“, von jenem Gott, der dem Menschen eine bloße Phantasiewelt als Wirklichkeit vorgaukelt.

4. Auch bei ihm sind Träume nur ein Traum im Traum.

Al-Ghasali und Descartes kommen beide zum metaphysischen Zweifel. Nur das sei wahr und wirklich, was aus der Schau geistiger Unmittelbarkeit rührt. Descartes: „Und so sehe ich ganz klar, daß die Gewißheit und die Wahrheit jeder Wissenschaft einzig von der Erkenntnis des wahren Gottes abhängt, so sehr, daß ich, bevor ich ihn nicht kannte, nichts über irgendeine Sache vollkommen wissen konnte.“ Gott muss „erfahren sein“, um die Relativität der Welt , ihr Nichtsein, zu erkennen. In seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“ spricht Georg Wilhelm Friedrich Hegel von der „heitren Innigkeit“ und dem „freien Glück“, die ein Sufi wie Rumi infolge seiner „Lossagung von der eigenen Partikularität“ gewinne.

Auch Hegel nimmt den Sufi-Faden der Philosophie wieder auf. Für ihn, den intellektuellsten der philosophischen Denker, gilt Gott als der „höchste Begriff“. Mystik und Denken gehören zusammen, auch wenn der Mystiker eine besondere Art zu denken zu bevorzugen scheint. Descartes „Ich denke – weshalb ich bin“ (cogito ergo sum) findet seinen Widerspruch im mystischen Gedanken „Der Mensch ist nur aus Gott“. Gott ist der Mittelpunkt im sophisch gearteten Denken. Sophische Philosophie kreist um den Wirklichkeitsbegriff; weshalb sie jede relative Wirklichkeit zum Schluss automatisch verwirft. Der „Damm um den Verstand“ verhindere sufisches Denken, meint Doris Lessing diesbezüglich. „Wozu ich selbst bei meinen eigenen… Sufi-Studien als vielleicht nützlichste Herausforderung eingeladen wurde, war herauszufinden, warum man an die Dinge glaubt, an die man glaubt; was heißt: die Grundlagen unserer Ideen zu prüfen.“ Imitatorisches Denken und Denken nur im Kopf kann niemals Sufismus ergeben.

Der Sufiweg war nie ein literarisches Projekt. Er ist, wie ich es einmal formulierte eine „Philosophie wider die Philosophen und Frömmler“, ein authentischer Pfad, der zur Wirklichkeit führt. Das „Eingehen in Gott“ soll jenen Vollkommenen Menschen erzeugen, der nur seine Wirklichkeit sieht.  Vielleicht aus diesem Grund hat es in allen Religionen Sufismus und Sufis gegeben. „Sufi-ismus“ sagt Sir Richard Burton, „war <auch> der östliche Elternteil der Freimauerei“. Mit diesem befremdenden statement sind wir erneut beim Thema: der Alchemie des Seins, der Suche nach dem Gral. Das, was die Sophis suchten, war das Geheimnis ihres Seins.

 „Ich glaube, dass sich eine Bewegung mit derart enormen Möglichkeiten, wie sie in Sufi Studien stecken, nicht vor anderen abschließen sollte, sondern bis in die entferntesten Winkel der Welt aufbrechen sollte, um den Nucleus einer universalen Aktion unter diesem oder einem anderen Namen zu bilden, die von Menschen aller religiösen Bekenntnisse und Nationalitäten adoptiert werden kann. Die ersten, die zur Unterstützung dieser Initiative vortreten sollten, könnten vernunftbetonte Christen aller Konfessionen sein. Gerade sie sollten eine Allianz mit Leuten, die an das menschliche Gewissen zum Besseren der Welt appelieren, herzlich willkommen heißen.“ Dr. Hilmi Makram Ebeid, koptischer Altrichter am Kairoer Appellationsgericht

Der Korpus des Sufismus ist zu verschiedenen Zeiten unter sehr unterschiedlichen Bannern in Marsch gesetzt worden. Im Mittelalter etwa ist der sufische Prozeß nicht primär religiös, wie bei den jüdischen Sufis, sondern prozessual und symbolisch dargestellt worden. Wenn auch die eigentliche Herkunft der Alchemie im Dunkeln liegt, ist die Tatsache ihrer Verbreitung im Westen unbedingt den Sufis zuzurechnen. Das diesbezügliche Material ist erdrückend und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Tatsache ist, dass Robert of Chester (siehe den indischen Sufiorden der Chistiyya!) „Das Buch der alchemischen Komposition“ übersetzte. Er beendete diese Aufgabe am 11. Februar 1144. Aus diesem Grund können wir das Datum des Aufkommens der Alchemie in Europa präzise datieren. Auch in der Alchemie spielt der Begriff des „Steins“ die entscheidende Rolle. Die Alchemie erwirkt den „Stein“, der aus niederen Metallen Gold machen kann. Der Alchemist spricht von der „Tugend“ dieses „Steines“, was deutlich allegorisch ist. Die „Zubereitung“ dieses Steines ist das Sufiprogramm. Denn „in der <nur> philosophischen Lösung bleiben Körper, Seele, Geist getrennt.“ (E. Scott). Im Mittelalter bot die Alchemie das philosophisch nicht erreichbare Verfahren individueller Auflösung an. Die Lösung der Persönlichkeit, die die Juden der Bibel im Sophitum fanden, bezeichnete das Mittelalter als „sophische Kunst“ (Alchemie). Wieder standen Sophis Pate.
Vielleicht wollten die frühen Alchemisten auf diese besondere Tatsache aufmerksam machen, indem die Väter dieser „Kunst“ den Beinamen as-Sufi trugen. Siehe das Beispiel Geber.

Das Elixier, mit dem die Alchemisten ihr ganzes Dasein tränkten, war die Liebe zu Gott. Der Stein, den sie suchten, war der Sapha der Sophis. Mittels einiger sehr instruktiver Lehrbriefe, die ihr Verfasser „Ilm al-Miftah“ („Die Wissenschaft des Schlüssels“) überschrieb, hatte der damalige Sekretär der türkischen Botschaft in Bern, Walter Ulrich Paul Schwidtal (geb. 1875), der Mitglied des Bektaschi-Ordens war, seinen Schülern die Gelegenheit geboten, Einblick in die wahre Herkunft alchemischer Praxis zu nehmen. Das „Gold der Philosophen“ könne man erwerben, indem man sich an die Initialen des Heiligen Koranes halte. Dort würde man als jeweils ersten Vers von 29 Suren (Kapitel) vereinzelte sinnlose Buchstaben finden, die alle Alchemie codierten. Sie wären das geheime Alphabet, an dem sich alle Maurer ursprünglich orientierten. Ihr einfaches Geheimnis wäre, daß diese Vorbuchstaben des Korans so viele Tage fünf bis zehn Minuten lang laut ausgesprochen werden müssten, wie es der Surenzahl entspricht, in der sie jeweils vorkommen. Während dieser Übungen seien mit der rechten Hand dreierlei verschiedene „Handzeichen“ und später vier verschiedene „Griffe“ zu machen, die Alchemisten Halsgriff, Brustgriff, Mittelgriff und Meister- oder Bauchgriff nännten. Zusammen mit diesen Zeichen und Griffen müßte ein Adept abwechseln die Vokale „a“, „i“ und „o“ und die Koran-Muqatta’aat[viii] sprechen, um völlig verwandelt zu werden.[ix] Der Auftrag zur Veröffentlichung des lang geheim gehaltenen vollständigen Wissens um die Grundlagen der Alchemie seien ihm von den Führern des Bektaschi-Ordens aufgetragen worden, gibt Schwidtal freimütig bekannt. Er selber hätte an den originalen Schauplätzen einer alchemischen Runde beiwohnen dürfen.

Die dortigen Maurer hätten zuanfang ihres Treffens das sogenannte Sternzeichen auf ihrer Brust gemacht, indem sie den Zeige- und den Mittelfinger aneinandergepresst und die restlichen Finger jeweils abgespreizt hätten: Das Allah-Erkennungszeichen der Freimauerei Der Meister würde jene Bektaschis, die Alchemie praktizierten, als „Bani al-Mim“ („Die Leute des Buchstabens M“) adressieren und ihre Sitzung mit den Worten „Im Namen Allahs, des Allerbarmenden, des Gnädigen“ beginnen. Dann würde er einen der ihren mit der Funktion des Wächters betreuen. Ein zweiter würde „Schaffner“, ein dritter „Läufer“ werden.

Er würde ihnen Fragen stellen:

„Hast du den Schlüssel, Bruder Läufer?“
Der würde ihm zur Antwort geben:
„Würdiger Meister, ich bin das I.“

Diesselbe Frage würde ihr Meister jetzt an den Wächter stellen:
„Hast du den Schlüssel, Bruder Wächter?“
Der würde ihm die Antwort geben:
„Würdiger Meister, ich bin das A.“

Als drittes würde sich der Meister jetzt dem Schaffner zuwenden, und dieser würde zu ihm sprechen:
„Würdiger Meister, ich bin das O.“

Mit diesen heiligen Worten würde das Werk dieses Tages beginnen. Wer des Arabischen mächtig, gebildet und einfühlig ist, wird im Sternzeichen dieser Maurer das arabische Schriftzeichen „Allah“ erkennen.
Erhellend ist auch, dass (und wie) alle Alchemisten ausschließlich die drei einzigen Vokale der arabischen Sprache verwenden. Naheliegend ist, dass die alchemischen Buchstaben A, I und O, mit denen laut Schwidtal die Alchemisten das Gold ihrer Seele gewinnen, für die drei chemischen Elemente Schwefel, Salz und Quecksilber stehen, die aus der Vielheit seines Seins angeblich die göttliche Einheit des Menschen bewirken. Im Viridarium Chymicum jedenfalls steht, dies sei „das ganze Werk der Philosophie. Die früher viele Formen hatten, sind nun in einer zu sehen. Der Anfang ist der Meister, und dieser bringt den Schlüssel. Schwefel mit Salz und Quecksilber wird den Reichtum erbringen.“[x]

Idries Shah macht diesen Sachverhalt noch etwas stärker deutlich: „Die Integration des Geistes und des inneren Bewusstseins durch das Auftreten des Meisters, der den Schlüssel besitzt…ist das sufische Konzept der Gewinnung von Einheit aus der Verschiedenartigkeit“ der Rollen und Formen des Lebens.

Schwidtal geht davon aus, daß die „Herstellung des Steines nur dem möglich ist, der die Wissenschaft des Schlüssels beherrscht“[xi]. Diese führt er kenntnisreich auf die „orientalischen Maurer“, also die Sufis zurück. Zur Rechtfertigung seiner These, dass die Wissenschaft des Schlüssels des Bektaschi-Ordens das „Magisterium der Rosenkreuzer und der Alchemisten“ und die „Bereitung des Steins des Weisen“ sei, führt Schwidtal die Häuser des französischen Freimauers Jacques Coeur in Montpellier und Bourges an, die freimauerische Embleme und Sprüche aufweisen, die ihr Erbauer von seinen häufigen Besuchen in Damaskus mitgebracht hatte. Sein Haus in Bourges habe je einen Turm in Form eines Zeigefingers und eines Daumens gehabt. Als weitere Hinweise führt der schweizer Freimaurer die Handstellungen der Figuren im Freiburger Münster, die Bücher von Louis Herre, die in Altona 1785 nachgedruckten Darstellungen der Figuren der Freimaurer, Schriften von Basilius Valentinus und das „Liber de Magni Lapidis Compositione et Operatione“ an – und einiges an Werken mehr[xii]. Die alchemische Philosophie sei immerzu um diese Buchstaben gekreist. Anscheinend haben die Alchemisten des Westens auch ihre „Handzeichen“ und „Griffe“ aus dem Islam geborgt. Man stelle nur die „Handzeichen“ nebeneinander – und wird erstaunt das Ergebnis betrachten. Laut Schwidtal und Sebottendorf wird das I-Zeichen durch den ausgestreckten rechten Zeigefinger symbolisiert. (Wobei der Rest der Hand zu einer Faust geschlossen ist.) Geometrisch gesehen ein einfacher Strich:

I

Seitenansicht des Handzeichens „I“

Beim sogenannten A-Zeichen (da es in Wirklichkeit kein A-Zeichen ist!) wird von der flachen Hand allein der Daumen in einem Winkel von 90° abgespreizt. Geht man von der Grundhaltung des I-Zeichen aus, so braucht man nur die Faust zu öffnen – um jetzt (als Kontur der rechten Hand) ein umgedrehtes „L“ zu sehen:

L

seitenverkehrte Seitenansicht des Handzeichens „A“

Um das dritte Handzeichen, das O-Zeichen, zu bilden, werden, ausgehend von der vorausgegangenen Handstellung, Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis gekrümmt. In der Kontur ist jetzt ein Strich mit einem Kreis zu sehen:

O

Seitenansicht des Handzeichens „O“.

Schwidtal klärt den Leser auf, dass die alchemischen Zeichen in der Reihenfolge I, û und O ausgeführt werden sollen. Von den genannten Zeichen würde nur das û -Zeichen mehrfach ausgeführt werden. Die größte Überraschung ist die Zusammenstellung dieser alchemischen Zeichen. Stellt man sie hintereinander, ergibt sich das folgende Bild: Allah1 Man braucht jetzt nur das Ganze umzudrehen, also arabisch zu „schreiben“, um zum Ärger für die einen und zur Freude der Muslime den Namen Gottes „Allah“ zu sehen: Allah2 Alles deutet darauf hin, dass, neben den Maurern, auch die Alchemisten mit ihrer rechten Hand den Namen Gottes „Allah“ formen, um ihr „Großes Werk“ zu vollenden. Er ist der Grund der alchemischen Transformationsenergie. Kenner der Materie werden nicht abstreiten wollen, dass der Vater der modernen Alchemie, die auf den drei Elementen Schwefel, Salz und Quecksilber basiert, Ibn Hayyan/Geber ist. Diese Kenntnis kann auch bei Schwidtal vorausgesetzt werden. Als dieser der alchemischen Zeremonie der Bektaschis beigewohnt hat, wird er wahrscheinlich dennoch überrascht gewesen sein, bei seinen türkischen Freunden nicht nur die geheimen Buchstaben der Alchemie, sondern auch die Erkennungsworte westlicher Freimaurer wiederzufinden: Schlüssel, Wasser, Feuer, Waage, Schwarz, Weiß, Rot, Rose – und Stein.[xiii] Dass westliche und östliche Maurer mit dem Begriff des Steins der Weisen zusammenhängen könnten, ist in der Tätigkeit des Maurers, dem Mauern von Steinen begründet. Weit schwieriger ist es, auf den sufischen Ursprung des Fachbegriffes der Alchemisten für ihren „Stein der Weisen“ zu kommen. In seiner Schrift

„Die Sufis“ hat Idries Shah alchemische Praktikanten darauf aufmerksam gemacht, dass „Asoth“ auf einen Terminus der Sufis zurückgeführt werden muss, der „Essenz“ oder „Wesen“ bedeutet. Es ist das Wort „as-Soath[xiv]. Der „Stein“ ist die Essenz des Lebens selbst. Nicht nur die Alchemisten suchten den „Stein der Weisen“. Um diesen edlen Stein, der das Leben verewigt, wurden Legenden geschmiedet. Auch die Legende des Grals. Die Gralssagen hatten ihren Ausgang vom Schloss des Grafen von der Champagne genommen. Der Graf war einer der Gründer des Ordens der Templer. Wie zu erwarten, galt auch die Gralsgemeinschaft als Gemeinschaft der Reinen. Im Parzival Wolfram von Eschenbachs (entstanden zwischen 1200 und 1210) erscheint der Gral als Stein. Wahrscheinlich stammt das Wort der „Gral“ vom persischen Begriff al-Gohr, „kostbarer Stein“, und nicht, wie viele meinen, von „Sang real“, dem „echten Blute“ Jesu ab. Er ist der „Stein der Philosophen“, der die Erlösung bringt. Der Held bei Eschenbach, Parzifal, wird als ein „Sohn der Witwe“ vorgestellt – im Sufitum ein üblicher Begriff für einen echten Sufi. Die Ritter der Runde (um Arthus) erhalten Speis und Trank von einem makellos reinen Stein, den man Lapsit exillis nennt.
Die zentralen Bausteine der Geschichte (eine Runde von Ethikern, ihr Aufbruch zu ihrer Transformation und nicht zuletzt der Gral) und der Hinweis ihres Autors, er habe die Geschichte von einem Provenzialen, „der die heidnischen Buchstaben (des Arabischen) erlernt hätte, um ein in Toledo gefundenes Buch lesen zu können“, machen ihre Herkunft klar: die arthurischen Ritter sollten die Mythologie der frühen Gesellschaft der Reinen, also der Sophis, weiterspinnen. Dass Chrétien de Troyes, der erste, der die Gralslegende aufgebracht hatte, Höfling am Hofe von Poitier  war, bestätigt das Gesagte. Auch sein Verweis darauf, dass ihm die szenische Idee von Marie von Champagne, also der Frau von Philip von Flandern, mitgeteilt worden war, spricht von derselben Sache: die Hüter des Grals hatten die Weisheit der Sophis im Sinn. Nimmt man die hier erläuterten Zusammenhänge als sinnvoll und gegeben an, erklären sich eine Reihe historischer Ungereimtheiten.

Die Heilige Sophia oder Weisheit der Sufis ist der zentrale Knotenpunkt der geistigen Geschichte der Menschheit. Sufismus ist ein Hort, durch den sich Gott beschützt. Nicht nur, weil der Sufismus, wie Doris Lessing meint, jene alte Philosphie und Liebesphilosophie ist, die sich in keinem Fall gegen wahre Religionen je feindlich gestellt hat. Im Sufitum „existiert ein Zugang zu einer Philosophie, die weit herumgekommen ist.“ Und „es herrscht Übereinstimmung darüber, dass der Sufismus jener Strom des Wissen ‘jenseits der Sterne’ war, der seit Adam an durch Noah, Abraham und hunderte von weisen Männern und Propheten, durch Jesus und Mohammed strömte.“ (Doris Lessing)

In der Tat ist der Wissenschaft der Zahlen (al-Dschafr) zufolge im arabischen Alphabet auch der Begriff, den die Sufis selbst als terminus technicus für ihren Weg verwenden, Tassawwuf, die zahlenmäßige Entsprechung zu „Göttlicher Weisheit“[xv]; was ebenfalls gegen die Herleitung des Wortes Sufi von Suf = Wolle und für seine Abkunft von Weisheit oder Sophia spricht. Das Band der Weitergabe dieser Weisheit ist bis heute nicht gebrochen. Man muss sich nur daran erinnern, dass die Katharer ihre Novizen als „lebende Steine im Tempel Gottes“ ansprachen.
Wie auffällig die Übereinstimmung ihres äußerlichen Tuns und ihrer religiösen Einstellung mit denen des Sufismus war, ist weiter oben dargestellt worden. Angefangen mit Sappho, bis zu den Sophiens, wurde die Fackel des sufischen Lichts, wenn auch zum Teil auf kleinstem Docht, durch häufig üble Zeiten getragen. Die Templer sind eine weiteres Beispiel. Die geheimnisumwitterte Kongregation wurde 1119 von Hugo von Payens in Jerusalem gegründet.
Die Kirche zog schon früh den Schluss, dass dieser Orden eine Tarnorganisation war. „Man beschuldigte die Templer, während der langen Zeit in Palästina nicht so sehr das Christentum an den heiligen Stätten etabliert zu haben, als vielmehr selbst vom Islam infiltriert worden zu sein. Die Geheimniskrämerei des Ordens tat das ihre dazu, die wildesten Gerüchte erblühen zu lassen. In den Reihen der Templer, so legten die Anschuldigungen nahe, gedieh der Islam. Der Satan hätte mitten in einer christlichen Bastion sein Lager aufgeschlagen.“[xvi]
Die Templer wurden vor allem in Verbindung mit gnostischen islamischen Sekten gebracht. Nicht nur die Kirche glaubte, sie würden eine Verschmelzung islamischen, christlichen, sowie jüdischen Gedankenguts anstreben. Bekannt ist, dass viele Templer infolge des gegen sie gerichteten Tribunals in Frankreich später aus ihrem Heimatland flohen, in Spanien und Ägypten Unterschlupf suchten, und dort offiziell zum Islam übertraten. Es hieß, die Templer hätten eine dämonische Macht namens „Baphomet“ verehrt. Bei ihren geheimen Zusammenkünften hätten sie sich vor einem bärtigen Männerkopf zu Boden geworfen . Dieser hätte zu ihnen gesprochen und ihnen okkulte Kräfte verliehen. Tatsächlich erwähnte eine große Zahl von Tempelrittern, von der Inquisition befragt, ein ominöses Etwas, das sie „Baphomet“ nannten. Die Tatsache, dass viele Ordensbrüder an verschiedenen Orten gleichzeitig von diesem eigenartigen Gegenstand sprachen, schließt die Vermutung aus, dass dieser, wie es hieß, „sprechende Kopf“ lediglich die Erfindung einer Einzelperson oder eines Ordenshauses gewesen sein könnte. Wer oder was war Baphomet?

Etymologisch könnte der Begriff auf eine Verballhornung des arabischen Wortes Abu Fihamet zurückgeführt werden, das von den Mauren Spaniens Bufihamet ausgesprochen worden war und „Vater des Verstehens“ oder „Vater der Weisheit“ bedeutet.[xvii] „Im Arabischen wird der Begriff „Vater“ aber auch im Sinne von „Quelle“ verwendet.“ In ihrer Schrift „Der heilige Gral und seine Erben“ gehen die Autoren Lincoln, Baigent und Leight davon aus, dass der Begriff Baphomet durchaus mit dem Islam verbunden gewesen sein könnte. „Sollte „Baphomet“ seinen Ursprung tatsächlich im Arabischen haben, so bezöge er sich vermutlich auf ein Göttliches Prinzip.“ Gegen diese These wenden sie den Einwand ein: „Wenn „Baphomet“ für Gott oder Allah stand, warum hätten sich die Templer <dann> die Mühe machen sollen, diesen umzutaufen? Stand „Baphomet“ jedoch weder für Gott noch für Allah – wer oder was war er dann?“ Möglicherweise, meinen die Autoren, hätte Baphomet in irgendeiner Beziehung zur Alchemie stehen können, da es im alchemischen Prozess der geistigen Verwandlung die sogenannte Phase des „caput mortuum“ („Totenkopfs“) gibt, der angeblich vor der Präzipitation des Steins der Weisen eintritt.

Der Historiker Malcom Barber dagegen vermutet, dass der erwähnte Kopf ein Reliquiar des Hugo von Payens gewesen sein könnte. Die Angaben zum „Kopf“ sind jedenfalls strittig. Die meisten Templer sagten aus, dass es sich um ein männliches Idol (mit Bart) handeln würde. Guillaume Pidoyé, der königliche Administrator und Verwalter der Besitzungen der Templer, der beauftragt worden war, das Idol zu beschaffen, präsentierte einen Frauenkopf aus vergoldetem Silber mit einem roten Tuch darüber. „Wie aus den Prozeßakten hervorgeht, fand sich im Pariser Ordenshaus neben anderen konfiszierten Gegenständen das Kopfreliquiar einer Frau, das folgendermaßen beschrieben wurde:“<Es handelt sich um einen <großen Kopf aus vergoldetem Silber, wunderschön gearbeitet und eine weibliche Büste darstellend. In ihm befanden sich zwei Schädelknochen, die in weißes Linnen eingewickelt und dann noch einmal in ein rotes Tuch eingeschlagen worden waren. Daran war ein Schild mit der Aufschrift befestigt Caput LVIII m („Kopf 58“).“[xviii]

Auffällig an dieser Jahreszahl war, dass das „m“ wie das astrologische Zeichen für Jungfrau aussah: Allah3 Von einer ganzen Anzahl von Autoren wird die Behauptung aufgestellt, dass der königliche Administrator in Ermangelung des echten Kopfes den hergezeigten Frauenkopf eilig aus dem Hut gezaubert hätte. Der Beweis dafür sei, dass Guillaume d’Arreblay, Präzeptor von Soissy und ehemaliger königlicher Gebührenverwalter, und andere die Aussage gemacht hätten, im präsentierten Idol den Kopf der Templer nicht wiederzuerkennen. Die gleichen Autoren (z.B. Kersten und Gruber) schreiben einerseits, dass nur die höchsten Eingeweihten des Idols ansichtig wurden. Doch fragen sie ihr Publikum absichtlich nicht, wie gerade die Verwalter des Königs, Erzfeinde der Templer, das Idol überhaupt je zu Gesicht bekommen haben sollten? Aus den verzerrten Wiedergaben ragen exklusiv nur zwei Beschreibungen des Baphomets heraus, die akzeptiert werden können. Neben dem schon angeführten Protokollen, könnte auch die Chronik von St. Denis weitere Aufschlüsse geben. Dort wird der Baphomet als Edelstein-besetzte Plastik beschrieben, aus deren „tiefen Augenhöhlen“ „zwei Edelsteine, hell wie der Himmel“ glänzten. Wieder zeigt sich die gleiche Symbolik: die Symbolisierung der Weisheit durch Steine.
Trotz aller Versuche, das kurios anmutende Idol der Templer mit dem Leinentuch Jesu und ungezählten anderen Dingen in Verbindung zu bringen, blieb sein Rätsel ungelöst. „Verehrten die Templer etwa den Satan selbst, oder Mohammed oder wen?“ fragen Kersten und Gruber die Leser. „Vielleicht wollte man durch die eigenwillige Namensgebung die Assoziation zu „Mahomet“ (Mohammed) erzeugen?“ Eine solche klangliche Verknüpfung hätte durchaus Sinn ergeben, da man im Languedoc islamische Moscheen gewöhnlich „Baphomeries“ hieß.

Als 1307 Wilhelm von Gisors vom Templerorden den goldenen Kopf, Caput LVIII m erhielt, hätte er ihn nur genauer unter die Lupe nehmen müssen, um sein Mysterium zu brechen. Er hätte nur die Aufschrift auf dem roten Tuchs umdrehen müssen, es also auf den Kopf stellen müssen, um sein Geheimnis zu entdecken. Dann hätte er auf jenem Tuch das „Haupt der Sophia“ gesichtet: Der goldene Kopf war das Sinnbild „Allahs“

Allah4

Das arabische Schriftzeichen „Allah“

Der „Verrat“, dessen sich die Templer in Wirklichkeit schuldig gemacht haben hatten, lag in der Anbetung Allahs! Nur so wird die Praxis der Niederwerfung der Templer vor dem „Idol“ verständlich – da diese eine islamische Form der Anbetung ist. Nur wenn man dieser These folgt, passt auch der „Baphomet“ ins Bild. Auch im Islam ist nämlich die Rede von einem Mysterienwesen (namens „Buraq“), das einen Frauenkopf trug. Mohammed hatte dieses „Wesen“ bei seiner Himmelfahrt bestiegen – als Zeichen des Aufstiegs zu Gott. Im Falle des Propheten war dieses Himmelswesen die mystische Sophia. Mohammeds Himmelfahrt ist das einzige von allen Muslimen gleichermaßen akzeptierte mystische Ereignis im Leben des Propheten gewesen. Kein anderes Sinnbild, denn der vergoldete Kopf einer Frau, hätte geeigneter sein können, den islamischen Gesandten („Mahomet“) als Patron der Mystik in Erinnerung zu bringen als sein geistiges Reisegefährt. Es hätte kein besseres Andenken an die spirituellen Dimensionen des Lebens gewählt werden können als das des Templer-Kults.

Allein mit der hier vorgebrachten Erklärung erhalten die verstreuten Elemente und ihre verschiedene Deutung einen gemeinsamen Sinn. Wenn dieser „sprechende Kopf“ vom geistig-historischen Ursprung der Templer sprechen sollte, dann tat er es gut. Ob in der Form des „caput mortuum“, also als „Totenkopf“ der Alchemie, oder als „Haupt“ der Gemeinde der Templer (Mohammed). Ob mit dem „Kopf“ die Heilige Weisheit (Sophia) oder die Himmelfahrt des Propheten gemeint worden sein könnte – er hätte nur einen einzigen Sinn: den Einen Gott, Allah, zu verehren. Selbst der geheime Code der Spiegelung der Zeichen[xix] würde zu diesem Thema passen: Nur geistiger Jungfräulichkeit oder Reinheit wird Gott Sich offenbaren. Sie beide gehören zusammen. Vielleicht hatte Mohammed um die alchemische Kraft dieses Namens gewusst. Wenn dieser Name Gottes tatsächlich das chemische Urwort der Umwandlung ist und der Prophet das Wissen darüber erhielt, dann wäre die Zerschlagung aller steinernen Götter der Ka’aba durch ‘Ali und Mohammed nur konsequent und zwingend gewesen – da diese nicht Gott-tauglich sind. Kein anderer der Namen Gottes, denn exklusiv „Allah“, konnte folglich das Wunder der Metamorphose des Menschen vollbringen. Warum der Kopf angeblich „sprach“, liegt in der Sache selbst begründet.
Zuerst einmal sprach er davon, woher die Templer stammten. Dann sprach er Gottes Namen aus. Sollte es sich wirklich bei dem Kopf um eine junge Frau gehandelt haben, dann drückte er sich durch die Büste der Jungfrau auch gleichnishaft aus: die Alchemisten waren gewohnt, die Alchemie als Jungfrau darzustellen. Diese übte die Kunst der drei Buchstaben aus. Der Spruch der Alchemisten hieß „ars ros is as os. „Die Kunst der Rose (sprich: der Vollendung) besteht aus I’s, A’s und O’s.“

Mohammeds Reminiszenzen an die Bibel und der koranische Bezug auf sie sollte in diesem Licht gesehen und völlig neu gedeutet werden. Neben seiner Hauptmission, den Koran zu empfangen, dürfte der Gesandte Gottes eine zweite, geheime Mission ausgeführt haben: die Sufitradition mit ihrer Alchemie zu einem neuen Höhepunkt zu bringen. Nur aus dieser Sicht wird die singuläre Betonung der Reinheit im Islam verständlich.

Dass, laut Koran, der Sikr-uLlah, also die Verwendung des Namens Gottes „Allah“ als Mantra, von größerer Bedeutung als das Pflichtgebet ist, bekräftigt diese Ansicht. In keiner anderen Religion haben sich die Sufis und der Sufismus dermaßen gut und ausdauernd wie im Islam erhalten. Nur im Gebäude des Islams wurde die Sophia der Bibel weiter heilig gehalten. Noch heute, gen Ende des zweiten Jahrtausends, müssen alle Pilger auf ihrer Pilgerschaft in Mekka zwei unbehauene Felsen nach Art der frühen Saphas besteigen, von dem der eine Safa heißt[xx].

Die Stiftung Sufi-naher Organisationen vollzog sich nach einem immer gleichen Muster: Auszug der Initiatoren in den islamischen Orient; dortige Niederlassung; Gründung eines Ordens, der von den etablierten christlichen Autoritäten als „muhammedanisch“, „muselmanisch“ und häretisch abgelehnt, stigmatisiert und schließlich bekämpft wurde. Konnte man nicht in den Orient reisen, standen fiktive Reisen an. Siehe die Gralslegenden. Auf diese Art und Weise ist auch das Rosenkreuzertum entstanden. Historisch steht fest, dass Christian Rosenkreuz, der angebliche Gründer dieser Bewegung, als mythische Gestalt nicht vor Anfang des 17. Jahrunderts belegt ist und etwa 1603 von Johann Valentin Andreae erfunden worden ist. Dieser schrieb, zum Teil anonym, eine Reihe von Werken, worunter die „Hymnische Hochzeit“ (ca. 1616), die „Fama und die „Confessio Fraternitatis“ (etwa 1614) die bekanntesten sind. In einer dieser Schriften begibt sich der fiktive Sucher, Christian Rosenkreuz, in den Jemen, nach Ägypten und nach Fez, das heißt in islamische Länder, um dem „Ruf der Weisen“ (Edighoffer) zu seiner Initiationsreise zu folgen. In Fez, der „Stadt aus Gold“, studiert er Alchemie. Einer der frühen Rosenkreuzer,

Heinrich Kunrath, hat das Motiv der Kreuzer zum Studium dieser Kunst in diesen schönen Vers gefasst: „Bedenke, wozu Du in die Welt gekommen bist: um Gott, dich selbst und die geistige Welt kennen zu lernen.“ Hierzu gelangst du

1. durch Beten im Oratorium,

2. durch Arbeiten im Laboratorium.

Das ist die höchste Philosophie.“[xxi]

„Aus dem Stein…sollst du Christus erkennen“, war Kunraths Motto zur Philosophie. Nur Menschen, die verwandelt sind, können den Glauben in gleicher Reinheit nachempfinden, wie er offenbart worden ist. Die „Rosenkreuzer-Fiktion“ (Prof. Edighoffer) ist auch aus einem zweiten Grund von nicht zu unterschätzender Bedeutung: vor allem das ältere Rosenkreuzertum war durch den Umstand gekennzeichnet, dass es kein strukturierter Orden war, dem man angehören konnte. Dasselbe Prinzip findet sich prinzipiell  auch im Sufitum wieder. Bemerkenswert ist auch, dass Andreae in der Chymnischen Hochzeit von keinem religiösen Orden, sondern einer Ritterschaft spricht, „dessen Mitglieder Herr über ihr Reittier, als Symbol ihrer Psyche“ gewesen sein sollen[xxii]. Das Reiten auf dem Ich, um nicht vom Ich geritten zu werden, gehört im Sufitum zu den beliebtesten Themen.

Im übrigen waren die frühesten und vehementesten Gegner dieser Bewegung orthodoxe Lutheraner, die den Rosenkreuzern besonders deren „Bezugnahme auf islamische Philosophien“, also das Sufitum, vorwarfen [xxiii]. Womöglich bleiben einige Teile des Puzzles der Rosenkreuzer und Templer für immer verschwunden, denn die wirklich tiefen Schichten geistiger Orden und Institutionen sind nur schwer zu durchdringen. Ihr mystischer Symbolismus nur selten mit echtem Begreifen in Einklang zu bringen. Vom Sufitum kann jedenfalls behauptet werden, die „schwarze Kunst“ der Alchemie und eine praktische Philosophie entwickelt und gefördert zu haben.

Der „Gott der Philosophen“ (Weischedel) ist niemals tot zu kriegen, wenn diese Sufis sind. Sufismus ist ein Quantensprung in unbekannten Raum. Westliche Sufischulen – wie die Illuminaten, Katharer und Templer – haben die Sufitradition auf die Verhältnisse ihrer Zeit übertragen und an die Umstände anpassen müssen, um Krisen, die aus dem Niedergang des Geistes stammten, überdauern zu können. Der Funke des Sufismus lebt. Warum er überlebt, wird niemand ohne mystische Einsicht je wissen und mitteilen können, es sei, dass er an jene Mythologien des Sufitums glaubt, die das sufische Licht aus verborgenen Welten herleiten wollen.

Der Philosoph Ernst Bloch scheint diese Möglichkeit nicht nur erwogen, sondern sie zu seiner festen Überzeugung gemacht zu haben, wenn er sagt: Der unsichtbare Führer der Sufis, und ihr „geheimnisvollster Heiliger“, „Chadir oder Chidr“ bereitet die Menschen als Belehrer und Berater „unaufhörlich auf den Jüngsten Tag“ vor. Dieser „eschatologische Geist“, „der nach dem verschwundenen (Propheten) Mohammed ebenso bleibt wie er kommt“ ist ein „Weiser in Göttlichen Dingen“. Als ewiger Bewahrer des Sufiwesens wird dieser Hoffnungsträger der Religionen zum „Grün der Lebenspflanzen im Garten Allahs nach dem Weltuntergang“ werden – „zur Liebesfreude nach geschlagener Schlacht“. Dieser „Sieg <des Glaubens> macht am Ende auch die ganze Kreatur/ Natur verklärt“.


[i] Aus: Sufi Studies East and West. New York 1973.
[ii] Nach einer bekannten Hadiß.
[iii] Siehe Aldoux Huxley, Die Ewige Philosophie.
[iv] Siehe David Benjamin „Muhammad in der Bibel“, Seiten 44-53.
[v] Henry Corbin, Creative Imagination in the Sufsm of Ibn ‘Arabi. Princeton 1969, Seite 327.
[vii] dtv-Atlas zur Philosophie.
[viii] Das ist der von Muslimen verwendete Begriff für die Koran-Initialen.
[ix] Ausführliches zu diesem Thema siehe meine Schrift „Weltformel 19/ Der universale Code ist entdeckt“.
[x] Siehe auch Idries Shah, Die Sufis, S. 181.
[xi] Die geheimen Übungen der türkischen Freimaurer. Freiburg, 1977, Seite 34.
[xii]  Schwidtal bezieht sich auch auf die folgenden Werke: „Amphitheatrum Sapientae Aeternae“ von Heinrich Kunrath; „Mineralium libri quinque“ von Albertus Magnus; „Von dem großen Stein der uralten daran so viel tausend Meister anfangs der Welt hero gemacht haben“ von Johannem Thölden; „Aureum seculum redivivum“ von Henricus Madathanus; „Clavis Majoris Sapientiae“ von Artefius; „Metallorum in melius mutationum Typus Methodusque“ von Ianus Lacinius; Novum Lumen Chemicum“ von Seton; „Geschichte der Alchemie“ von Schmieder; und auf Basilius Valentinus und Arnold von Villanova.
[xiii] Die Übungen der türkischen Freimaurer, Seite 22.
[xiv] Die beste Umschrift für as-Sath wäre tatsächlich Asoth, da der arabische Vokal, den man hört, in diesem Fall mehr einem „o“ als einem „a“ zuneigt.
[xv]  Siehe Seyyed Hossein Nasr. Ideal und Wirklichkeit des Islam. München1993, Seite158.
[xvi]  Holger Kersten, Elmar R. Gruber, Das Jesus Komplott. München 1992, Seite 244.
[xvii] Der heilige Gral und seine Erben, Seiten 71 f.
[xviii] Ebenda, Seiten 115 f.
[xix] Das astrologische Zeichen für Jungfrau und die arabische Kalligrafie „Allah“.
[xx] Der Name des zweiten ist Marwa.
[xxi] Roldand Edighoffer, Die Rosenkreuzer. München, 1995. Seite 28.
[xxii] Ebenda, S. 127.
[xxiii] Die Rosenkreuzer, Seite 12.

Ein Gedanke zu „Die Meister des Nichtseins und Seins

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